„Was die Frauen alles können.“

1916 Die Neue Zeitung

Der Krieg hat bereits die Erkenntnis gezeitigt, daß die Frau in ihrer vielseitigen Verwendbarkeit unterschätzt und ihre einwandfreie Ersatzfähigkeit für die im Felde stehenden Männer verkannt worden ist. Wir sehen die Frau nicht nur in geistigen Berufen tüchtig am Werke, sondern auch schon dort, wo bisher nur das „starke“ Geschlecht durch sein physisches Übergewicht in Betracht kam.

Briefträgerinnen, Schaffnerinnen haben sich vortrefflich bewährt und in vielen geschäftlichen Betrieben versehen nun Frauen auch den „Herren“-Dienst in ebenso gewissenhafter wie handfester Weise. Diese dienstliche Metamorphose hat sich naturgemäß auch in den Trachten erkennbar gemacht und, über das erste Befremden hinweg, hat sich unser Anpassungsvermögen im Kriege schon damit befreundet, auch Frauen in männlich-energischer Adjustierung um uns zu sehen.

Neuerdings taucht eine überaus schmucke Type in den Wiener Straßen auf und erregt die wohlgefällige Aufmerksamkeit der Passanten. Durchwegs stramme Frauengestalten in einer sehr schicken Uniform aus kurzem Rock und Pumphose in graugrünem Peluche, ebensolcher Kappe mit gelbem Seidenband und schwarzer Firmeneinwebung und Wickelgamaschen aus Trikot. Dieses fesche Amazonenkorps sind die von den Ersten Wiener Kronenbrotwerken gemusterten, bezw. Kürzlich installierten Brot-Ausführerinnen, resp. -Zustellerinnen, welche ihr Gefährte mit zielbewußter Hand durch die Straßen Wiens lenken, um das beliebte Kronenbrot an die zahlreichen Konsumgeschäfte fein säuberlich abzuliefern. – Das Debüt einiger dieser versuchsweise adjustierten Kronenbrot-Amazonen ging allerdings nicht glatt vonstatten, weil sich manche der Konsumentinnen durch den Anblick von Frauen in Männerkleidern in ihrer hehren Weiblichkeit verletzt fühlte und mußten sogar energische Kontrollore die ersten Fahrten zur Beschützung mitmachen. Es wurden nun ganze Scharen ausgestattet und bald machte sich auch hier die praktische Einsicht geltend, so daß heute die zahlreichen Kronenbrot-Ausführerinnen, resp. -Zustellerinnen ihren Dienst in musterhafter Weise versehen können. Naturgemäß hatten dieselben vorher eine gründliche Berufsausbildung erfahren müssen, indem sie von Fahrmeistern zum Kutschieren abgerichtet, von Instruktoren zum Kundenverkehr herangebildet wurden – strenge „Mannes“-Zucht wird auch hier gehalten, denn ihre Arbeitstätigkeit wird durch Inspektoren und Revisoren genauest kontrolliert. Es ist gewiß interessant, zu erfahren, daß bei der Anwerbung die mannigfachsten Berufsklassen sich gemeldet haben und waren darunter Beamtinnen, Geschäftsfrauen, Musiklehrerinnen, Köchinnen, Stubenmädchen, Näherinnen, Modistinnen, Straßenbahnschaffnerinnen, Kinderfräuleins, ja selbst Akrobatinnen, Artistinnen, Tänzerinnen, Zirkusreiterinnen, Sängerinnen, Hebammen haben sich lebhaft um diese Stellen beworben. Als noch bekannt wurde, daß die Kronenbrot-Ausführerinnen, res. -Zustellerinnen das sehr namhafte Einkommen von einigen hundert Kronen pro Monat erreichen, entstand eine fast stürmische Hausse in weiteren Bewerbungen um diesen einträglichen Verdienst. Bemerkenswert ist, daß Ausführer und Ausführerinnen anderer ähnlicher Unternehmungen kein derartig hohes Einkommen, wie diejenigen der Ersten Wiener Kronenbrotwerke aufweisen können. Dieses Unternehmen kann mithin das schöne Verdienst für sich in Anspruch nehmen, daß es in den schweren Zeiten des Weltkrieges einer großen Zahl erwerbsloser Frauen einen reichlichen Verdienst ermöglicht. Es erübrigt daher nur noch zu sagen, daß die Erwerbsfähigkeit der Frau heute eine nahezu unbegrenzte ist und es wäre nur wünschenswert, daß dem löblichen Beispiele der Ersten Wiener Kronenbrotwerke auch andere Unternehmungen, insbesondere die Arbeiter-Konsumvereine, folgen würden.

Die Neue Zeitung, 2.4.1916, Seite 5

(Die Neue Zeitung vom 2.4.1916, Seite 5)

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