Die Verhaftung der weißrussischen Abgeordneten.

Telegramm unseres Korrespondenten.

Warschau, 18. Januar

Bei den Linksparteien des Sejm wächst die Erregung über die Verhaftung der weißrussischen Abgeordneten durch si politische Polizei. Der angeblich verschwundene Abgeordnete Miotla ist nicht, wie es hieß, geflohen, sondern gleichfalls verhaftet worden. Somit sitzt nunmehr die gesamte Fraktion der weißrussischen bäuerlichen Partei hinter Schloß und Riegel, dazu ein Abgeordneter der unabhängigen Bauernpartei. Sejmmarschall Rataj hat schriftlich und in Konferenzen mit dem Justizminister Meysztowicz um eine Erklärung ersucht, ob die Abgeordneten wirklich bei gemeinen Verbrechen in flagranti erwischt worden sind, da anderenfalls ihre Verhaftung verfassungswidrig sei. Der Sejm wird sich in seiner nächsten Plenarsitzung mit den Vorfällen beschäftigen.

(Neue Freie Presse vom 18.01.1927, Seite 2)

Danksagung aus dem IX. Bezirk

Auf dem Platze hinter der Votivkirche wird massenhaft der Schnee, neuester Zeit aber aller Unrath zugeführt, sodaß der ganze Platz schon jetzt klafterhoch mit der Ablagerung bedeckt ist, wodurch die Passage daselbst zwischen der Währinger- und der Alserstraße abgeschnitten wurde. Indem alle Landwirthe um Wien auf diesen billigen Dünger hinter der Votivkirche aufmerksam gemacht werden, danken insbesondere die in der Nähe Wohnenden den edlen Häuptern der Stadtcommune für die ihnen zugedachte, sich jetzt nach und nach entwickelnde Cholera-Atmosphäre.

Wien, am 16. Januar 1867.        A.

(Neue Freie Presse vom 17.01.1867, Beilage)

Unger’s Experiment glänzend gelungen

Mister Murphy, einer der besten Londoner Zuschneider, demonstriert bei Unger den neuen englischen Stil in Herrenkleidern. – Er erklärt die Kombination von englischem Schnitt mit der ausgezeichneten Wiener Näharbeit als das absolut Ideale.

Murphy

Im großen Schneidersaal des Hauses Unger hat der englische Zuschneider G. W. Murphy vor geladenen Gästen den neuesten Londoner Stil demonstriert. Der Prinz of Wales hat ihn eingeführt und er entspricht denn auch ganz dem freundlichen und umgänglichen Wesen dieses Fürsten: es ist der Stil der Bequemlichkeit. Anfangs haben die Londoner Westenschneider diese Bequemlichkeit einfach dadurch erreicht, daß sie den Rücken weit schnitten und zwei Falten unter den Achseln in den Kauf nahmen. Die sind aber alles andere als schön, und so hat man nach einem Schnitt suchen müssen, der ohne diese Falten dem Rücken die erforderliche Weite gibt. Denn nur auf den Rücken kommt es an. Man denke einmal an sich selbst, wie jede Bewegung der Arme nach vorne geht, ob man nun schreibt oder liest, ißt oder trinkt, Golf spielt etc. Nie gehen die Arme nach hinten, immer nur nach vorn. So entstand das Problem: das Sakko muß hinten nachgeben, also weit sein, ohne aber Falten zu schlagen, und dabei muß der Gesamteindruck ein adretter sein, als ob das Sakko am Körper anliege, ohne es jedoch zu tun. Erreicht wird das heute mit einem raffinierten Schnitt der Brust, die herausgearbeitet wird, wodurch für das Auge eine betonte Taillenlinie hervortritt. Aber nur für das Auge, in Wirklichkeit ist das Sakko auch in der Taille bequem.

Dieser Schnitt hat noch einen großen praktischen Vorteil. Es ist klar, daß ein eng anliegendes Sakko bei jeder Bewegung aus der Fasson gezogen wird und sie darum schnell verlieren muß. Bei dem neuen Schnitt geht der Stoff mit, wird nicht angestrengt, und die Fasson hält sich viel länger.

Die Ausführungen des Engländers waren sehr leicht verständlich. Die Gäste waren so interessiert, daß einige Herren selbst die Sakkos anprobierten. Jeder war erstaunt, wie leicht man sich darin bewegt, und daß man dabei doch darin aussieht „wie aus dem Ei gepellt“.

Ein besonderes Lob spendete Mister Murphy der Wiener Näharbeit. Nach seiner Meinung ist die Fertigstellung der Kleider seitens der Nähschneider des Hauses Unger viel besser und solider, als man es in London gewöhnt ist. Dabei kann sich dieser große Fachmann, der für fast alle lebenden Könige und Potentaten gearbeitet hat, sicherlich ein Urteil anmaßen.

(Neue Freie Presse vom 14.3.1931, Seite 3)

Das Protokoll über die Tragödie von Mayerling

Mitteilungen eines Kenners der Habsburger Familienchronik

Wie berichtet wurde, ist dem verheerenden Brand Ellischau
Brande, der das Schloß Ellischau des Grafen Taaffe heimsuchte, auch das in der dortigen Bibliothek verwahrte Protokoll über die Unglücksnacht von Mayerling zum Opfer gefallen. Hiezu erhalten wir von einer Persönlichkeit, die Einblick in die Vorgänge im ehemaligen Kaiserhaus hat, folgende Mitteilungen:

Über die näheren Umstände, unter denen das Protokoll über das unheilvolle Ende des Kronprinzen Rudolf in die Obhut des Grafen Taaffe gelangt ist, wird eine authentische Darlegung wohl schwer zu erlangen sein. Man weiß, daß Graf Taaffe dem intimen Freundeskreis Franz Josefs angehört hatte und bis zu seinem Sturze das unbegrenzte Vertrauen des Monarchen genoß. Es ist daher möglich, daß Kaiser Franz Josef das wichtige diskrete Dokument in den Händen des Grafen Taaffe in sicherster Verwahrung zu sehen glaubte und es ihm aus spontanem Entschlusse zur Aufbewahrung überwies. Tatsache ist, daß das Dokument in dem ehemaligen Hofarchiv nicht vorhanden war, wie sich mehrere Persönlichkeiten, die nach diesem Protokolle forschten, überzeugen konnten. Ob es überhaupt jemals in dem Hofarchiv hinterlegt wurde, kann mit Sicherheit, obwohlvon dem Protokolle aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Exemplare existierten, nicht angegeben werden. Auch wo andere etwaige Exemplare verwahrt sein könnten, weiß man nicht. Über den Umfang und den Inhalt des Protokolls ist in der Öffentlichkeit ebenfalls nichts bekannt geworden und man ist da auf reine Vermutungen angewiesen. Dazu kommt, daß für dieses Protokoll keine Schablone vorhanden war, die ja sonst für markante Ereignisse im Kaiserhause in Geltung stand, weil dies der erste Selbstmord eines Mitgliedes der Kaiserfamilie war und der Fall eine ganz singuläre Bahandlung erforderte. Man kann aber annehmen, daß auch in diesem Falle der Usus beibehalten wurde, daß der Minister des kaiserlichen Hauses gemeinsam mit einem höheren Hofbeamten, möglicherweise der Parität wegen mit einem Ungarn, mit der Abfassung des Protokolls betraut worden ist. Der Inhalt des Protokolls kann sich entweder auf die Festhaltung der durch die Untersuchung erwiesenen knappen Tatsachen beschränkt haben oder er kann auch auf die Details der Zeugenaussagen usw. ausgedehnt worden sein.

Übrigens muß bemerkt werden, daß auch andere mit der Tragödie von Mayerling in Zusammenhang stehende Dokumente in dem Hofarchiv, wo man nach ihrem Verbleib forschte, fehlten. Hierher gehört vor allem das Telegramm Kaiser Franz Josefs an den Papst, worin der schwer betroffene Monarch beim Papst um den Dispens des für Selbstmörder bestehenden Verbotes der kirchlichen Zeremonien ansuchte und dies in ausführlicher Weise – man sagt, daß das in französischer Sprache abgefasste Telegramm tausend Worte gehabt haben soll – begründete. Ein drittes Dokument ist schließlich das von vier ärztlichen Kapazitäten aus Wien verfaßte Protokoll über den Leichenbefund, das in dem Archiv ebenfalls nicht vorhanden ist. Es heißt übrigens, daß einer der vier Professoren sich geweigert haben soll, seine Unterschrift unter dieses Protokoll zu setzen, da seinem Verlangen nach Abnahme des Verbandes vom Kopfe des toten Kronprinzen zur genauen Besichtigung der Wunden nicht entsprochen worden sei.

Das Schloß Ellischau enthielt außer dem erwähnten, durch den Brand vernichteten Protokoll noch eine ganze Reihe vonkostbaren historischen Schätzen, und es wäre ein unersätzlicher Verlust, wenn all diese Seltenheiten durch die Katastrophe untergegangen wären.

(Neue Freie Presse vom 10.3.1926, Seite 8)