Das Protokoll über die Tragödie von Mayerling

1926 Neue Freie Presse

Mitteilungen eines Kenners der Habsburger Familienchronik

Wie berichtet wurde, ist dem verheerenden Brand Ellischau
Brande, der das Schloß Ellischau des Grafen Taaffe heimsuchte, auch das in der dortigen Bibliothek verwahrte Protokoll über die Unglücksnacht von Mayerling zum Opfer gefallen. Hiezu erhalten wir von einer Persönlichkeit, die Einblick in die Vorgänge im ehemaligen Kaiserhaus hat, folgende Mitteilungen:

Über die näheren Umstände, unter denen das Protokoll über das unheilvolle Ende des Kronprinzen Rudolf in die Obhut des Grafen Taaffe gelangt ist, wird eine authentische Darlegung wohl schwer zu erlangen sein. Man weiß, daß Graf Taaffe dem intimen Freundeskreis Franz Josefs angehört hatte und bis zu seinem Sturze das unbegrenzte Vertrauen des Monarchen genoß. Es ist daher möglich, daß Kaiser Franz Josef das wichtige diskrete Dokument in den Händen des Grafen Taaffe in sicherster Verwahrung zu sehen glaubte und es ihm aus spontanem Entschlusse zur Aufbewahrung überwies. Tatsache ist, daß das Dokument in dem ehemaligen Hofarchiv nicht vorhanden war, wie sich mehrere Persönlichkeiten, die nach diesem Protokolle forschten, überzeugen konnten. Ob es überhaupt jemals in dem Hofarchiv hinterlegt wurde, kann mit Sicherheit, obwohlvon dem Protokolle aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Exemplare existierten, nicht angegeben werden. Auch wo andere etwaige Exemplare verwahrt sein könnten, weiß man nicht. Über den Umfang und den Inhalt des Protokolls ist in der Öffentlichkeit ebenfalls nichts bekannt geworden und man ist da auf reine Vermutungen angewiesen. Dazu kommt, daß für dieses Protokoll keine Schablone vorhanden war, die ja sonst für markante Ereignisse im Kaiserhause in Geltung stand, weil dies der erste Selbstmord eines Mitgliedes der Kaiserfamilie war und der Fall eine ganz singuläre Bahandlung erforderte. Man kann aber annehmen, daß auch in diesem Falle der Usus beibehalten wurde, daß der Minister des kaiserlichen Hauses gemeinsam mit einem höheren Hofbeamten, möglicherweise der Parität wegen mit einem Ungarn, mit der Abfassung des Protokolls betraut worden ist. Der Inhalt des Protokolls kann sich entweder auf die Festhaltung der durch die Untersuchung erwiesenen knappen Tatsachen beschränkt haben oder er kann auch auf die Details der Zeugenaussagen usw. ausgedehnt worden sein.

Übrigens muß bemerkt werden, daß auch andere mit der Tragödie von Mayerling in Zusammenhang stehende Dokumente in dem Hofarchiv, wo man nach ihrem Verbleib forschte, fehlten. Hierher gehört vor allem das Telegramm Kaiser Franz Josefs an den Papst, worin der schwer betroffene Monarch beim Papst um den Dispens des für Selbstmörder bestehenden Verbotes der kirchlichen Zeremonien ansuchte und dies in ausführlicher Weise – man sagt, daß das in französischer Sprache abgefasste Telegramm tausend Worte gehabt haben soll – begründete. Ein drittes Dokument ist schließlich das von vier ärztlichen Kapazitäten aus Wien verfaßte Protokoll über den Leichenbefund, das in dem Archiv ebenfalls nicht vorhanden ist. Es heißt übrigens, daß einer der vier Professoren sich geweigert haben soll, seine Unterschrift unter dieses Protokoll zu setzen, da seinem Verlangen nach Abnahme des Verbandes vom Kopfe des toten Kronprinzen zur genauen Besichtigung der Wunden nicht entsprochen worden sei.

Das Schloß Ellischau enthielt außer dem erwähnten, durch den Brand vernichteten Protokoll noch eine ganze Reihe vonkostbaren historischen Schätzen, und es wäre ein unersätzlicher Verlust, wenn all diese Seltenheiten durch die Katastrophe untergegangen wären.

(Neue Freie Presse vom 10.3.1926, Seite 8)

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