Die Ernährungssorgen

1921

Der Vieh- und Fleischwucher

Während der kurzen Zeit der christlichsozialen Regierung hat sich in Wien der Fleischwucher so ungeheuer entwickeln können, daß man auf allen Märkten eine fortwährende Einschränkung des Fleischverbrauches beobachten kann. Der weitaus größere Teil der Bevölkerung kann die wahnsinnig hohen Fleischpreise, die heute selbst für die schlechtesten und minderwertigsten Fleischsorten verlangt werden, schon längst nicht mehr bezahlen, und so wird der Kreis der Fleischverbraucher immer weiter eingeschränkt. Das Ueberangebot an Fleisch, das man heute auf den Märkten und in den meisten Geschäften wahrnehmen kann, besteht daher zumeist auch nur aus jenen Mengen, die infolge der unerschwinglichen Preise unverkauft liegen bleiben.

Der Hauptgrund für diese Preisausartungen, die die Lebenshaltung der Bevölkerung immer mehr bedrohen, ist nun vor allem in den maßlosen Preisforderungen der Landwirte zu suchen, die noch durch den völligen Mangel von einheitlichen Vorschriften über die Viehaufbringung und die Viehpreise gefördert werden. Die Tatsache, daß die einzelnen Länder in diesen Fragen selbständig, ohne auf die allgemeine Fleischversorgung des Reiches Rücksicht zu nehmen, verfügen können, hat jetzt in Steiermark zu einem regelrechten Zusammenbruch der Fleischversorgung geführt. Ursprünglich hatte die dortige christlichsoziale Landesregierung Höchstpreise für Vieh festgesetzt und ein Ablieferungskontingent vorgeschrieben, während das Ueberkontingent im freien Handel verkauft werden konnte. Diese Maßnahme hatte zur Folge, daß die Landwirte ihrer Ablieferungspflicht nur sehr widerwillig nachkamen und dabei noch überdies das minderwertigste und schlechteste Vieh der Übernahmestelle überweisen. Die Landesregierung glaubte nun, die Sache besser zu machen, indem sie gleichzeitig auch Höchstpreise für Fleisch festsetzte, um so den Händlern und Fleischbauern die Möglichkeit zu nehmen, die Viehpreise überbieten zu können. Die wirkung war nun die, daß jetzt in Steiermark darüber geklagt wird, daß das Vieh auf Schleichwegen nach Wien wandert, so daß sich die steirische Landesregierung genötigt sah, auch die Fleischpreise für Graz zu erhöhen.

Der Fall lehrt, daß es mit dieser Anarchie in der Fleischversorgung nicht weitergeht. Die Fleischversorgung muß vor allem nach einheitlichen Grundsätzen geregelt werden, wobei getrachtet werden muß, daß die Landwirte ihrer Ablieferungspflicht nachkommen. Von allen Kennern der landwirtschaftlichen Verhältnisse wird heute versichert, daß der Viehbestand in den Ländern die schweren Kriegsfolgen zumeist längst überwunden hat, was schon deshalb der Fall sei, weil die hohen Fleischpreise die Aufzucht von Schlachtvieh rentabler erscheinen lassen, als die Milchwirtschaft und den Anbau von Körnerfrucht. Es fehlt aber der christlichsozialen Regierung an Mut, gegen die Landwirte vorzugehen und zu trachten, daß die Fleischversorgung auf einer möglichst einheitlichen Grundlage geregelt wird. Die Folgen dieses Zustandes sehen wir immer deutlicher in dem maßlosen Hinaufschrauben der Preise die die weitesten Kreise der Bevölkerung vom Fleischgenuß ausschließen.

(Arbeiter Zeitung vom 08. 02. 1921, Seite 6)

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